Risiko durch PKW innerorts 2022

Für die Frage, ob interessierte Umsteigekandidaten das Fahrrad für innerörtliche Alltagswege in Betracht ziehen, dürfte wohl kaum ein Faktor von so großer Bedeutung sein wie die Sorge, durch aggressive oder unachtsame PKW-Führer schuldlos über den Haufen gefahren zu werden. Die folgende Auswertung zeigt, dass diese Sorge jedoch unbegründet ist.

Angesichts der nur wenigen verbleibenden Tage bis zum Jahresende, die wegen der vielen Feier- und Ferientage und wegen der fahrradunfreundlichen Witterungs- und Lichtverhältnisse im Dezember tendenziell sehr verkehrsarm sein werden, ist absehbar, dass sich an der vorliegenden Zusammenstellung nicht mehr viel ändern wird. Infolgedessen nutze ich die Gelegenheit für einen ersten Jahresrückblick.

Die untenstehende Tabelle zeigt die aktuellen Liste mit sämtlichen im laufenden Jahr 2022 bekannt gewordenen tödlichen Fahrradunfällen unter Beteiligung von fahrenden PKW innerhalb von deutschen Städten mit mindestens 20.000 Einwohnern. Definitionsgemäß beginnt ab dieser Schwelle eine „Mittelstadt“, während „Großstädte“ mindestens 100.000 Einwohner besitzen müssen. Orte unter 5.000 Einwohnern zählen noch als „Dorf“, wohingegen Ansiedlungen im Bereich zwischen 5.000 und 20.000 Einwohnern als Kleinstädte bezeichnet werden. Von der deutschen Bevölkerung haben immerhin ca. 60% der Einwohner ihren Wohnsitz in einer Groß- oder Mittelstadt. Zudem dürfen Dörfer und Kleinstädte bezüglich der Verkehrsbelastung als eher unkritsch gelten. Die mediale Berichterstattung fokussiert die Infrastrukturdebatte jedenfalls ausschließlich auf „Städte“ und meint damit ganz sicher nicht Orte wie Bischofsgrün in Bayern oder Wanzleben in Sachsen-Anhalt. Infolgedessen ist die Beschränkung auf das Unfallgeschehen in Mittel- und Großstädten durchaus aussagekräftig und lohnenswert.

(Anmerkung: Klick in das Tabellenbild öffnet die sortierbare Tabelle in einem neuen Fenster)

Bis zum Stichtag 8.12.2022 sind erst 18 Fälle in allen 761 in Frage kommenden Städten registriert worden. Da Berlin in dieser kurzen Liste gleich 5x vertreten ist, haben demnach 747 Städte (73 der 80 Groß- sowie 674 der 681 Mittelstädte) im laufenden Jahr keinen tödlichen Fahrradunfall mit PKW-Beteiligung gehabt („PKW-Fahrrad-Vision-Zero“). Folge dieser geringen Anzahl ist auch, dass im laufenden Jahr immerhin in der Hälfte aller deutschen Bundesländer kein PKW-Fahrrad-Todesfall auftrat. Bis auf eine Ausnahme in Dessau-Rosslau (Sachsen-Anhalt) ist insbesondere Ostdeutschland in der Liste nicht vertreten.

Unfallhergänge

Mit insgesamt 14 der 18 Fälle stellen 90°-Vorrangkonflikte (300er-Gruppe der Unfalltypen) die häufigste Variante unter den Unfallhergängen.

Im Einzelnen gab es hierunter 6 Vorfahrtkonflikte, 6 gescheiterte Fälle von Fahrbahnüberquerung und 2 Todesfälle durch PKW-Führer, die aus einem Grundstück in die Fahrbahn einfuhren. Zwei Radfahrer starben bei „Freak“-Unfällen, die sich aus akuten Gesundheitsproblemen (epileptischen Anfällen) der Autofahrer ergaben. Die verbleibenden 2 tödlichen PKW-Unfälle resultierten aus Fehlern beim Linksabbiegen, wobei je einmal der getötete Radfahrer und einmal der PKW-Fahrer abbog. Es gab keinen Todesfall durch einen unachtsam rechts abbiegenden PKW-Lenker. Vor allem aber wurde kein Fall bekannt, in dem ein PKW-Fahrer durch rücksichtsloses Überholen oder Vorbeifahren einen Radfahrer im Längsverkehr niedergestoßen und tödlich verletzt hätte. Hinsichtlich der Typenverteilung entspricht der Jahrgang 2022 damit durchaus dem aus den Vorjahren bekannten Bild. Auch im Hinblick auf das Auftreten von Unfällen zwischen PKW und Fahrrädern mit „nur“ schweren Verletzungsfolgen deckt sich der vorliegende Mix mit meinem bei der täglichen Recherche nach Todesfällen nebenher gewonnenen subjektiven Eindruck.

Straßenteile

Bis auf 2 Ausnahmen, wo es im Umfeld lediglich eine Fahrbahn gab, passierten alle Unfälle in Straßen bzw. auf Kreuzungen, die über irgend eine Art von Radverkehrsführung verfügten. Elfmal passierte dabei der Unfall an Straßenstellen mit konventionellen Hochbordradwegen. Zweimal war ein Radfahrstreifen vorhanden und dreimal gab es einen Schutzstreifen. Aufgrund der Tatsache, dass entweder eine Radverkehrseinrichtung vorhanden war und/oder der Unfall aus einem 90°-Vorrangkonflikt resultierte, kann man feststellen, dass „fehlender Radweg“ in keinem einzigen Fall als begünstigender Faktor zu erkennen ist.

Persönliche Merkmale der Opfer

Bei den Getöteten handelt es sich mehrheitlich (Verhältnis 13:5) um Männer. Die Hälfte der Opfer war mindestens 70 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Betroffenen liegt mit 62,5 geringfügig unter dem Schnitt von 64,1 Jahren, der in 2022 für alle bundesweit getöteten Radfahrer gilt. Die kleine Abweichung ist jedoch allein darauf zurückzuführen, dass unter den Stadt-PKW-Opfern ausnahmsweise auch ein 5-jähriges Kind ist. Ohne dieses außergewöhnlich seltene Ereignis liegt der Altersschnitt vom Rest bei 65 Jahren.

Beteiligte PKW

Entgegen ihres negativen Image als „Stadtpanzer“ sind SUV gemessen an der Zulassungsstatistik unter den beteiligten PKW-Typen offenbar deutlich unterrepräsentiert. Soweit die Art des PKW in den Presseberichten überhaupt für erwähnenswert gehalten oder im Bildmaterial gezeigt wird, handelt es sich bei den Unfallgegnern eher um Kleinwagen oder biedere Mittelklasse-PKW. Ebenso sind die einschlägig berüchtigten Nobelmarken mit „eingebauter Vorfahrt“ keineswegs auffällig oft beteiligt.

Schuldverteilung

Die für viele spannendste Frage soll am Schluss erörtert werden: welche Schuldverteilung gibt es bei Todesfällen nach Kollision zwischen Rad und PKW in der Stadt? Den in den Unfallberichten genannten Fahrlinien der beiden Beteiligten vor der Kollision zufolge dürften in der Mehrheit der Fälle (Verhältnis 9:7) der verstorbene Radfahrer den gröberen/einzigen Fehler begangen haben. Die Meldungen geben in keinem Fall Anlass dazu, offensichtliche Absicht oder bewusste Fahrlässigkeit („es als Stärkerer einfach mal drauf ankommen lassen“) zu unterstellen.

Auf Autofahrerseite stehen dabei allerdings noch die zwei Fälle mit kollabierenden Lenkern im Raum, bei denen mangels Einblick in die Krankenakten oder ggf. im Nachhinein erstellte medizinische Gutachten vorerst unbekannt bleiben muss, inwiefern die Verursacher ihren fatalen Kollaps hätten vorhersehen können und müssen.

Fazit

Todesfälle mit PKW-Beteiligung sind unabhängig von der Schuldverteilung innerorts so selten, dass niemand aus Sorge davor auf das Fahrrad als Verkehrsmittel verzichten muss. Auch im Hinblick auf (nicht) vorhandene Fahrrad-Infrastruktur besteht kein Anlass für die Meidung spezieller als „unsicher“ verrufener Führungsformen. Egal ob Fahrbahn, Hochbordradweg oder die als „Mordstreifen“ geschmähten Streifenlösungen auf Fahrbahnniveau – alles kann unter dem Gesichtspunkt des Risikos sprichwörtlich „unters Auto zu kommen“ in deutschen Städten gleich sicher benutzt werden.

Ein Gedanke zu „Risiko durch PKW innerorts 2022

  1. Wolfgang Strobl

    > Egal ob Fahrbahn, Hochbordradweg oder die als „Mordstreifen“ geschmähten Streifenlösungen auf Fahrbahnniveau – alles kann unter dem Gesichtspunkt des Risikos sprichwörtlich „unters Auto zu kommen“ in deutschen Städten gleich sicher benutzt werden.

    Gewiß. Ich bezweifle aber, dass sich diese Aussage halten ließe, wenn man auf Fahrtempo und andere Eigenschaften kontrollierte, die etwas mit der Leistungsfähigkeit des Fahrzeugs als Verkehrsmittel zu tun haben. Platt ausgedrückt: Fahrbahnfahren ist nicht sicherer als alle Ab- und Randwege, aber es ist schneller, bequemer und zuverlässiger.

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