Radwege: Radeln im Tödlichen Winkel

Wie Radführungen das Radeln zur Lebensgefahr machen

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Video „16 seconds: The Killing of Anita Kurmann“. Man beachte, dass hier trotz der Markierung der mittleren Spur mit „Sharrows“ die rechte Fahrspur geradeaus in einen mit Fahrradpiktogramm gekennzeichneten Radfahrstreifen überleitet und so gerade unsichere und eher vorsichtige Radfahrer in die Tote-Winkel-Falle lockt.

Die erschreckende Anzahl der tödlichen Rechtsabbiegerunfälle rechtfertigt eine genauere Analyse dieses Bereichs im Radunfallgeschehen. Grundlegende Untersuchungen zum Thema wurden in den letzten Jahren z.B. vom niederländischen Verkehrssicherheits-Forschungsinstitut SWOV oder in Deutschland von der Bundesanstalt für Straßenwesen (2005) und der Unfallforschung der Versicherer UDV (2013) publiziert. Bemerkenswert ist, dass offenbar selbst die Niederlande und Dänemark, die für Viele den Maßstab im Radwegebau setzen, noch kein bauliches Patentrezept gegen den Tote-Winkel-Unfall gefunden haben. So wurden nach dem SWOV-Factsheet „Fietser“ in den Jahren 2008 bis 2016 in NL im Schnitt  jährlich 9-10 Radler durch rechtsabbiegende LKW getötet. Normiert auf die rund fünffach niedrigere Einwohnerzahl liegt diese Zahl über dem deutschen Wert (Ø 35 p.a.; s.u.); dies allerdings bei knapp der doppelten Pro-Kopf-Radfahrleistung. Dänemark übertrifft auch fahrleistungsnormiert das deutsche Ergebnis deutlich (5-6 Rechtsabbieger-Opfer jährlich, 1/14 der deutschen Einwohnerzahl, ca. 20% größere Pro-Kopf-Radfahrleistung, Vejdirektoratet, 2019).

Die für diese Webseite von Januar 2013 bis April 2018 gesammelten tödlichen Radunfälle mit rechts abbiegenden KFZ wurden ergänzend näher analysiert, indem in Presseberichten eingeschlossene Fotos vom Unfallort sowie die verfügbaren Luftbilder bei Google- und Bing-Maps nachträglich ausgewertet und im Hinblick auf die Führungsform am betroffenen Kreuzungsarm klassifiziert wurden. Ebenso wurde Alter und Geschlecht der Beteiligten mit dem Kollektiv der übrigen Unfälle verglichen.

Verfolgt man die Leserbriefe und Kommentare, die sich nach einem „Toter Winkel“-Unfall in den sozialen Medien finden, so liest man immer wieder den Ratschlag an die Radfahrerschaft, Blickkontakt zum abbiegenden Fahrer zu suchen, im Zweifelsfall zurückzustecken und auf seinen Vorrang nach § 9 Abs. 3 StVO zu verzichten. Diese Empfehlung impliziert, dass die Opfer genau dies ganz bewusst unterlassen hätten und unterstellt damit, dass die Verunglückten quasi aus rechthaberischer Prinzipienreiterei mutwillig „auf ihrer Vorfahrt bestanden“ hätten. Ebenfalls wird dabei verbreitet unterstellt, die Radfahrer hätten ihr Schicksal auch dadurch selbst heraufbeschworen, indem sie versucht hätten, sich auf der Fahrbahn am bereits stehenden und rechts blinkenden KFZ „vorbeizumogeln“. Beides geht jedoch, wie die folgende Auswertung zeigt, an den realen Ursachen von fatalen Rechtsabbieger-Konflikten meilenweit vorbei.

Tödlicher Schwerlastverkehr

In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich beim beteiligten KFZ um ein längeres Schwerlastfahrzeug (LKW mit Anhänger, Betonmischer, Sattelschlepper, Muldenkipper). Todesfälle mit PKW sind hingegen trotz der erfahrungsgemäß bei Radwegführungen immensen Anzahl an Konflikten mit abbiegenden Autos sehr selten (s.u.); solche mit abbiegenden Kleintransportern (Mercedes Sprinter, VW Transporter etc.) sind sogar in den letzten fünf Jahren gar nicht bekannt geworden. Dies muss um so mehr überraschen, als gerade Schwerlast-KW über 7,5 t durch gesetzliche Vorgaben mit einer ganzen Batterie an zusätzlichen Spiegeln ausgestattet sein müssen, die die Fahrer dieser Fahrzeuge in die Lage versetzen, grundsätzlich alle relevanten Stellen rechts neben dem LKW einzusehen. Damit -wie es bei zahlreichen Anlässen im Rahmen von kindlicher Verkehrserziehung geschieht- ganze Schulklassen im „Toten Winkel“ verschwinden können, muss zuvor das Spiegelkabinett ganz oder teilweise verstellt bzw. abgedeckt worden sein.

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Tote-Winkel-Spiegel abgedeckt: arglose Schulkinder werden für den vermeintlich „guten Zweck“ dreist belogen…

Quintessenz: der hier diskutierte „Tote Winkel“ ist kein physikalisches Phänomen, sondern ein psychologisches Problem. Der „Tote Winkel“ befindet sich nicht am LKW, sondern im Kopf des Fahrers, der damit überfordert ist, innerhalb eines kleinen Zeitfensters alle relevanten Informationen gleichzeitig aufzunehmen und korrekt zu verarbeiten.

toter Winkel im Kopf

Offensichtlich macht es dann außerdem die ungewöhnliche Schleppkurve der Schwerlast-LKW für parallel fahrende Radfahrer schwer, das drohende Ungemach rechtzeitig vorherzusehen und ihm durch eigene Reaktionen noch zu entkommen. Da sich das Führerhaus bis weit in die Kreuzung hinein scheinbar geradeaus fortbewegt, ist es für ein Ausweichen oder Anhalten offenbar längst zu spät, wenn die LKW-Flanke überraschend die schnelle Seitwärtsbewegung beginnt. Hinzu kommt, dass der Radfahrer durch sein Fahrzeug daran gehindert wird, einfach einen oder zwei Schritte zurückzutreten.

Wie schnell durch die vermeintliche Geradeausfahrt des LKW eine zunächst harmlose Parallelfahrt zum lebensbedrohlichen Zwischenfall eskaliert, lässt diese -glücklicherweise glimpflich ablaufende- Situation erahnen, die von @FFMbyBicycle gefilmt und via Twitter zur Verfügung gestellt wurde.

Der „Tote Winkel“ ist ein Frauenproblem

Dass die opferverhöhnende Interpretation „Pass doch auf, Dummi“ nichts mit dem wirklichen Unfallgeschehen zu tun hat, zeigt sich insbesondere dadurch, dass über die Hälfte (54,3%) aller LKW-Rechtsabbieger-Todesopfer weiblich sind.

Blasen Geschlecht

Frauen sind damit, was diesen Unfalltyp anbetrifft, sowohl im Hinblick auf ihre Verkehrsbeteiligung als auch auf ihre sonstige Beteiligung bei Todesfällen stark überrepräsentiert. Ungewöhnlich ist hierbei auch, dass die beteiligten Frauen mit einem Durchschnittsalter von nur 50,6 Jahren gleichzeitig wesentlich jünger sind als die vom Typ 243 betroffenen Männer (57,2 Jahre) und auch erheblich jünger, als die von allen anderen Unfalltypen betroffenen Männer und Frauen (61,5 respektive 62,4 Jahre). Während Todesfälle beim Radfahren ansonsten eher ein Problem der mit dem Alter nachlassenden Reaktionsfähigkeit und Fitness zu sein scheinen, schlägt der Tod im „Toten Winkel“ also verstärkt unter den vermeintlich rücksichtsvollen und vergleichsweise fitten Personen zu.

„Toter Winkel“ braucht Radweg

Wie die vorliegenden Daten zeigen, beschränkt sich das Tote-Winkel-Problem zu quasi 100 %  auf Konflikte mit Radfahrern, die nicht im Mischverkehr auf der Fahrbahn fuhren: im langjährigen Mittel kommt es in Deutschland jährlich zu rund 35 Todesfällen in der Konstellation der beiden amtlichen Rechtsabbieger-Unfalltypen 232 bzw. 243; von Januar 2013 bis April 2018 waren dies insgesamt 177 Fälle. Lediglich drei Todesfälle passierten mit fahrbahn-nutzenden Radfahrern, wobei man allerdings berücksichtigen muss, dass alle drei Fälle die Besonderheit aufwiesen, dass sie in kleinen Kreisverkehrsplätzen geschahen.

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Unfalltypen gemäß amtlichem Schlüssel, Nr. 243 fasst hier alle Spielarten von besonderen Radverkehrsführungen zusammen

Entgegen der vom ADFC auf der Grundlage der vorliegenden Statistik im Juni 2018 veröffentlichten Pressemitteilung, ist kein klar erkennbarer Trend zu steigenden Opferzahlen abzulesen. Das Jahr 2013 mit der niedrigsten Zahl an Rechtsabbiegertoten in der bisherigen Erfassung ist zugleich auch das Jahr mit der bisher niedrigsten Todesopferzahl im Radverkehr insgesamt. Das wiederum liegt allerdings wohl weniger an einer globalen Abnahme der Verkehrssicherheit seither, als vielmehr an der außergewöhnlich lang anhaltenden Frostperiode im Winter 2012/13.

rechtsabbiegestatistik-de

Allerdings liegt die Zahl der Rechtsabbiegertoten sehr deutlich über dem 2005 von der Bundesanstalt für Straßenwesen geschätzten (!) Wert von 10 Fällen pro Jahr (F54, S. 22), zumal damals noch insgesamt 159 Opfer bei tödliche Kollisionen mit LKW innerorts zu verzeichnen waren, während es im Zeitraum 2013-2017 nur noch insgesamt rund 70 LKW-Opfer jährlich waren.

„Toter Winkel“-Unfälle sind das größe Einzelrisiko unter den innerörtlichen Unfallarten

Die hohe Zahl der Rechtsabbieger-Toten wiegt um so schwerer, als dieser Unfalltyp weitgehend auf innerörtliche Straßen beschränkt ist. Bis auf 6 Fälle passierten alle diese Unfälle innerhalb geschlossener Ortschaften, womit der Unfalltyp 243 allein 21% sämtlicher erfassten Todesfälle mit KFZ-Beteiligung innerorts ausmacht. Beschränkt man die Auswertung auf den Unfallgegner „LKW“, so stellt der Typ 243 im Mittel der letzten Jahre sogar knapp die Hälfte (45%) aller innerörtlichen Todesfälle.

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Erstaunlicherweise ist die Abbiegeproblematik offenbar weniger Folge von mangelnder Erfahrung seitens der beteiligten (Berufs-)Kraftfahrer als vielmehr Konsequenz langjähriger Routine. Das Durchschnittsalter der LKW-Führer jedenfalls liegt bei 47 Jahren, und nur in 11 Fällen war der unfallverursachende Fahrer überhaupt jünger als 30 Jahre. Wenig überraschend handelte es sich bei den LKW-Fahrern ausnahmslos um Männer.

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Die Form der Radverkehrsführung spielt keine Rolle

Wenn auch nicht in allen Fällen garantiert werden kann, dass die von den großen Kartendienstleistern angebotenen Luftbilder den Zustand der Kreuzung zum Unfallzeitpunkt wiedergeben, so zeigt der Vergleich zwischen Luftbildern und Zeitungsfotos doch, dass die Luftbilder grundsätzlich auch als alleinige Quelle verwendet werden können, da sie mit großer Wahrscheinlichkeit das zutreffende Kreuzungsdesign wiedergeben.

Die Art der Separation hat offenbar keinen oder nur einen äußerst geringen Einfluss auf die Eintretenswahrscheinlichkeit eines fatalen Abbiegefehlers: die Verteilung auf die unterschiedlichen Führungsformen scheint in etwa der gefühlten  Häufigkeit dieser Führungsformen im Straßenbild zu entsprechen. Hinzu kommt, dass in mehreren Fällen an ein und derselben Kreuzung tödliche Unfälle geschahen, obwohl das Kreuzungsdesign in der Zwischenzeit massiv geändert wurde (z.B. Hochbordradweg, Form 1A in Abbildung unten → Radfahrstreifen mit vorgezogener Überleitung der Rechtsabbiegerspur, 2D). Auch das Anbringen von Verkehrsspiegeln an Ampelmasten („Trixi-Spiegel“) scheint wenig Auswirkungen auf das Unfallrisiko zu besitzen, da es in immerhin sechs Fällen trotz solcher Spiegel (erneut) zu einem tödlichen Zwischenfall kam.

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Aus diesem Grund steht auch zu befürchten, dass die derzeit populären von Pollern „geschützten“ Radstreifen wegen der unmittelbar angrenzenden Rechtsabbiegerspur (entsprechend Führungsform 2A) das Sicherheitsproblem aller anderen Radverkehrsanlagen mindestens teilen werden. Nimmt man die Ungefährlichkeit des innerörtlichen Überholens auf der Fahrbahn und die enorme Anfälligkeit von Radverkehrsanlagen für die Tote-Winkel-Problematik zusammen, so wird sich der von den Pollern ausgehende „Schutz“ wohl nur auf das Abweisen von Behinderungen durch falschparkende KFZ beschränken.

(Anmerkung 15.8.2019: die im Text genannten Zahlenangaben entsprechen nach wie vor dem Stand der Statistik im April 2018, als dieser Beitrag online ging. Die enthaltenen Abbildungen werden allerdings gelegentlich aktualisiert).