PKW-fahrende Senioren als Unfallgegner bei tödlichen Fahrradunfällen

Einleitung

Am 28.2.2024 beschloss das Europaparlament in einer Abstimmung über eine Vorlage der EU-Kommission, dass es vorerst keine verpflichtenden Gesundheits-Checks für ältere Autofahrer in der EU geben solle. Die Vermutung, dass spezifische altersbedingte Defizite von Senioren im Unfallgeschehen eine auffällig große Rolle spielen würden, und dass es gleichzeitig möglich sei, diese Defizite vorab im Rahmen einer Routineuntersuchung feststellen und die künftigen Verursacher daher vom Straßenverkehr rechtzeitig ausschließen zu können, wird jedoch auch künftig nach jedem spektakulären Unfall unter Beteiligung eines Senioren erneut auf die (social-)mediale Tagesordnung gehoben werden. Unabhängig von der durchaus fragwürdigen Erfolgsquote von solchen Routinechecks ist allerdings auch strittig, ob Senioren überhaupt -wie nach aufsehenerregenden Einzelfällen schnell pauschal unterstellt- für andere Verkehrsteilnehmer ein relevant erhöhtes Risiko darstellen. Diese Frage soll anhand einer Auswertung der tödlichen Fahrradunfälle unter dem Gesichtspunkt des Alters von PKW-führenden Unfallgegnern erhellt werden.

Häufigkeit von PKW-Unfällen

Im Zuge der seit Anfang 2013 laufenden Erfassung von tödlichen Fahrradunfällen habe ich, sofern verfügbar, auch das Alter der Unfallgegner in die Datenbank eingetragen, so dass die Filterung auf diesen Parameter im Kontext von Ortslage, Straßenkategorie, Schuldverteilung oder Unfallhergang möglich ist. Die Einstufung eines Unfallgegners als „Senior“ erfolgte für die vorliegende Auswertung, wenn der beteiligte PKW-Lenker mindestens 75 Jahre alt war. Dieser Wert wurde bewusst höher gewählt als das Kriterium „Senior“, das bei der Auswertung der Verkehrsunfallstatistik durch die Polizeibehörden oder seitens des Statistischen Bundesamt angesetzt wird (65 Jahre) und auch höher als es dem Vorschlag der EU-Kommission bei der Abstimmungsvorlage über regelmäßige medizinische Fahrtauglichkeitstests für das Europaparlament entsprach (70 Jahre). Für die Klärung, ob spezifische altersbedingte Ausfälle existieren, die zu erhöhten Unfallrisiken für die beteiligten „Aussassen“ führen können, erscheint mir die Trennung erst ab einem Alter von mindestens 75 Jahren zweckmäßiger, weil nur dann damit zu rechnen ist, dass alterstypische Risiken hinreichend klar sichtbar zu Tage treten können.

Insgesamt wurden seit Beginn meiner Erfassung Anfang 2013 bis heute (6.3.2024) 5011 Todesfälle von Radfahrern ausgewertet. Bei 1810 davon war am Ereignis ein PKW beteiligt, der in 184 Fällen von einem Lenker gesteuert wurde, der mindestens 75 Jahre alt war. Das entspricht im Mittel ca. 160 tödlichen Fahrrad-PKW-Unfällen jährlich, von denen rund 16 (10,2%) unter Beteiligung von Senioren am Steuer sind.

pkw

In 304 Fällen war das Alter des PKW-Lenkers den Pressemeldungen nicht zu entnehmen und 28-mal befand sich der PKW lediglich im ruhenden Verkehr ohne Person am Steuer (z.B. Aufprall des Radfahrers ins Heck eines am Fahrbahnrand parkenden PKW). Für die weitere Auswertung beschränke ich mich auf Fälle mit aktivem PKW-Lenker, dessen Alter bekannt ist (1.659 Fälle, davon 1475 mit Alter bis einschließlich 74 Jahren und 184 (12,5%) mit mindestens 75-jährigen PKW-Führern).

alter

Hergänge und Ortslagen

Gibt es bei Senioren abweichende Muster bei Hergängen und Ortslagen? Zur Beantwortung dieser Frage wurde zunächst die Anzahl der Ereignisse je nach Hergang (Abkürzungen siehe Legende) und Ortslage tabellarisch erfasst.

alterskohorten

Anschließend wurde der Prozentwert der Altersgruppe „Senioren“ (75+ Jahre) innerhalb der jeweiligen Rubrik berechnet.

quoten

Die Einfärbung der Zellen in der entsprechenden Ergebnistabelle zeigt das Maß der Abweichung der jeweiligen Quoten von der Gesamtquote, die für alle Ereignisse global in Abhängigkeit vom Fahreralter gefunden wurde (12,5%). Über alle Ortslagen hinweg sind Senioren tendenziell häufiger an tödlichen Fahrradunfällen vom Typ „Ü“ (Rammen/Streifen von hinten) sowie an Unfällen beim Rechtsabbiegen unter Beteiligung von auf Radverkehrsanlagen parallel geradeaus fahrenden Radlern beteiligt. Besonders selten fallen Senioren hingegen bei Vorfahrtkonflikten als Gegner auf. Im Hinblick auf die Gewichtung der Ortslagen zeichnet sich über alle Hergänge hinweg insgesamt ein Bild ab, bei dem Senioren am PKW-Steuer auf Landstraßen öfter vertreten waren, während sie innerhalb von geschlossenen Ortschaften unterdurchschnittlich auftreten. Die hohe Senioren-Quote innerorts beim Unfallhergang „Einfahren in die Fahrbahn“ und in der Rubrik „unklar“ ist wahrscheinlich lediglich ein statistischer Ausreißer, der auf die sehr kleinen Absolutzahlen in diesen Sparten zurückzuführen ist.

Zeitliche Entwicklung

Meine Untersuchung der tödlichen Fahrradunfälle läuft mittlerweile das zwölfte Jahr. Infolgedessen bietet sich die Möglichkeit, die chronologische Entwicklung der Seniorenunfälle zu analysieren, um die Hypothese zu prüfen, wonach Seniorenunfälle aufgrund der allmählichen Überalterung der Gesellschaft stetig zunehmen würden.

chronologisch

Wie die Abbildung oben ausweist, gibt es eine beträchtliche Bandbreite der Ergebnisse für einzelne Jahre mit teils deutlichen Abweichungen vom langjährigen Mittelwert (Ø16). Dabei liegen sowohl das Jahr mit den meisten Todesfällen (2016, 28) wie auch das mit den wenigsten (2015, 10) schon etwas länger zurück und folgten direkt aufeinander. Im Trend weist die Statistik eine leichte Abnahme der Fallzahl auf, was insgesamt auch dem Bild für Fahrradunfälle unter Beteiligung von PKW in der Gesamtstatistik entspricht. Eine Maßnahmen erfordernde besorgniserregende Zunahme der Todesfälle mit Senioren am Steuer ist jedenfalls nicht zu erkennen.

Schuldverteilung

Einen wichtigen Hinweis auf altersbedingte Defizite bei Senioren am PKW-Steuer könnte die Analyse der Schuldverteilung aufdecken. Für alle erfassten Fahrradunfälle mit Beteiligung weiterer Personen wurde von mir aus meinem Gesamteindruck beim Studium der Pressemeldungen eine mutmaßliche Hauptschuld festgelegt. Anzumerken ist hier vorab, dass die endgültige Haftungsverteilung oft erst lange Zeit nach dem Unfall vor Gericht geklärt wird, der Öffentlichkeit unter Umständen nicht alle Informationen zur Klärung der Schuldfrage mitgeteilt werden (Beleuchtung am Rad, Alkoholisierung der Beteiligten, genaue Fahrlinien vor der Kollision) und zudem die relative Gewichtung der Bedeutung der zum Unfall beitragenden Fehlverhaltensweisen in vielen Fällen auch Geschmacksache ist. Infolgedessen ist damit zu rechnen, dass meine persönliche Einschätzung sowohl zufällig wie auch systematisch von der amtlichen Einstufung durch die Unfallaufnahme abweichen wird. Allerdings gehe ich davon aus, dass die große Anzahl an untersuchten Ereignissen zufällige Fehler ausgleicht und dass systematische Abweichungen nicht vom Alter der beteiligten PKW-Lenker abhängen. Insofern dürfte das Ergebnis unter dem Strich zur Klärung des eingangs dieses Absatzes aufgeworfenen Problems geeignet sein.

schuldverteilung

Die Intensität der rötlichen Einfärbung der Tabellenzellen folgt dem Zellenwert für die Schuldverteilung je nach Unfallhergang. Der Vergleich der Farbmuster weist aus, dass im Wesentlichen bei keinem der Unfallhergänge eine starke altersabhängige Änderung der Schuldverteilung zu beobachten ist. Auffällig ist allerdings, dass insgesamt über alle Unfallhergänge hinweg die Unfallschuld bei jüngeren Autofahrern seltener auf Seiten der Kraftfahrer liegt (35% Hauptschuld PKW) als das bei Senioren der Fall ist (51% Hauptschuld PKW).

Einschätzung des Risikos unter Berücksichtigung des altersabhängigen Bevölkerungsanteils

Wie oben erwähnt, beträgt der Anteil der Senioren 75+ am Steuer von unfallbeteiligten PKW 12,5%. Um diesen Wert objektiv einschätzen zu können, bedarf es der Normierung auf die Fahrleistung der Personen im entsprechenden Alter. Meines Wissens nach gibt es leider keine Erhebung, die diesen Parameter für die gewählte Altersgruppe im Zuge von Mobilitätsstudien repräsentativ erfasst. Ebenso besteht grundsätzlich in der Mobilitätsforschung Unkenntnis darüber, in welchen Ortslagen und zu welchen Tageszeiten die jeweilige Mobilitätsleistung erbracht wird. Aus Studien zum Verhalten älterer Kraftfahrer ist lediglich qualitativ bekannt, dass Senioren zunehmend die Autobahnen und Landstraßen meiden und seltener bei Dunkelheit unterwegs sind. Die Verlagerung der Aktivitäten auf den Bereich im Wohnumfeld innerhalb der geschlossenen Ortschaften und während der Tageslichtzeiten würde aufgrund der typischerweise dort wesentlich häufigeren Konflikte die Unfallzahl erhöhen, während auf der anderen Seite die Schwere der Ereignisse aufgrund der innerorts viel niedrigeren Geschwindigkeiten abnehmen sollte. Angesichts dieser schwierigen Gemengelage ist die beste Annäherung an das altersabhängige Unfallrisiko mit Hilfe der sehr gut bekannten Einwohnerzahlen zu erreichen. Dem aktuellen Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes zufolge umfasste die deutsche Bevölkerung im Jahr 2022 insgesamt 83,1 Millionen Personen, von denen 8,6 Millionen mindestens 75 Jahre alt waren und 60,7 Millionen zwischen 17 und 74 Jahren lagen. Der Anteil der Senioren an den 69,3 Millionen PKW-Führerschein-fähigen Personen beträgt somit 12,4% – was ziemlich genau dem Wert der beteiligten Senioren an tödlichen Fahrrad-PKW-Unfällen entspricht.

Fazit

Die vorliegende Analyse hat gezeigt, dass tödliche Fahrradunfälle unter Beteiligung von Senioren insgesamt recht seltene Ereignisse sind. Von den derzeit jährlich gut 400 im Straßenverkehr tödlich verunglückten Radfahrern versterben im langjährigen Mittel lediglich 16 (3,5%) unter Beteiligung von PKW-Führern, die älter als 75 Jahre sind. Nur in etwa der Hälfte dieser wenigen Fälle liegt dabei die mutmaßliche Hauptschuld auf Seiten des PKW-Führers. Die Anzahl der jährlich registrierten Fahrrad-PKW-Seniorenunfälle hat im Laufe der letzten 12 Jahre im Trend abgenommen. Die Analyse der Unfallhergänge ergibt zwar ein überdurchschnittliches Risiko für eine Seniorenbeteiligung bei Ramm-/Streifunfällen im Längsverkehr sowie bei Rechtsabbieger-Unfällen. Aufgrund der niedrigen Absolutzahlen in diesen Rubriken beträgt der Unterschied zum anhand der Zahl gleichartiger Fälle mit Fahrern bis 74 Jahren abgeleiteten Erwartungswert allerdings maximal 1 pro Jahr. Senioren am Steuer sind innerorts etwas seltener und außerorts etwas häufiger als dem Erwartungswert entsprechend an tödlichen Fahrradunfällen beteiligt, und sie trifft im Falle einer Beteiligung in einer höheren Quote die (mutmaßliche) Hauptschuld. Die Quote der Beteiligung von Senioren an tödlichen Fahrrad-PKW-Unfällen entspricht dem Anteil der Senioren an den PKW-Führerschein-fähigen Personen.

Insgesamt ergibt die vorliegende Betrachtung damit kein spürbar erhöhtes Risiko, dass eine betagte Person an einem tödlichen Fahrradunfall beteiligt sein wird. Senioren sind offensichtlich in der Lage, durch große Erfahrung und Verhaltensanpassung (wozu auch reduzierte Fahrleistungen, die Beschränkung auf bekannte Strecken oder der freiwillige gänzliche Verzicht aufs Autofahren gehören) etwaige altersbedingte Defizite so vollständig auszugleichen, dass ihre Unfallbeteiligung ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Aufgrund der generell niedrigen Fallzahlen und insbesondere aufgrund der Tatsache, dass es im Hinblick auf spezifisches Fehlverhalten und Hergang offensichtlich keinen herausragenden typischen „Seniorenunfall“ gibt, zeigt sich damit, dass eine regelmäßige medizinische Prüfung von Senioren als PKW-Führer keine messbare Entlastung des Geschehens bei schweren Fahrradunfällen bringen würde. Dies bestätigt die von der Schweizer Behörde „Beratungsstelle für Unfallverhütung“ (BfU) durchgeführte Untersuchung klar auch für den Personenkreis einer als besonders vulnerabel geltenden möglichen Opfergruppe. Die BfU war nach der Analyse der Unfallentwicklung in der Schweiz im Vergleich mit der in Deutschland und Österreich (wo derartige Prüfungen nicht notwendig sind) vor und nach der Einführung von medizinischen Kontrolluntersuchungen ab 70 Jahren in der Schweiz zu dem Schluss gekommen, dass die Checks die erhoffte Wirkung verfehlt hatten. In der Folge wurde die gesetzliche Altersschwelle für die Untersuchungspflicht bereits auf 75 Jahre angehoben und soll nach erneuter Prüfung gegebenenfalls weiter auf dann 80 Jahre angehoben oder wieder ganz abgeschafft werden.

4 Gedanken zu „PKW-fahrende Senioren als Unfallgegner bei tödlichen Fahrradunfällen

  1. TheK

    Du schiebst die Kategorie „einfahren“ so einfach als statistischen Ausreißer bei Seite, aber in Verbindung mit dem drastischen Unterschied bei der Schuld wird es dann doch interessant. Das ganze gibt es übrigens mit einem sehr ähnlichen Szenario auch andersherum: Radfahrer, die außerorts beim Queren der Fahrbahn getötet werden sind zu 50% 75 oder älter (und weitere 25% sind 60-74).

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    1. radunfaelle Autor

      Wir reden bei der Kategorie „Einfahren“ von insgesamt 7 Fällen unter Beteiligung von Senioren in 11 Jahren, von denen zudem 2 durch einfahrende Radfahrer verursacht wurden. Da ist jede verallgemeinernde Aussage gelinde gesagt kühn.

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  2. MartinTriker

    Sehe ich das richtig, dass du dich nur auf Unfälle zwischen PKW-fahrenden Senioren und Radfahrern konzentriert hast? Bzw. tödliche Unfälle? Wie sieht die Statistik denn für alle Unfälle aus, bei denen Senioren am Steuer saßen? Denn darauf zielte ja die Vorlage ab.

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    1. radunfaelle Autor

      Die amtliche Unfallstatistik kastriert leider die in den Rohdaten (Unfallaufnahme-Formulare) noch verknüpften Parameter für die Zusammenstellung der bekannten regelmäßig publizierten Statistiken. Ich habe keine Ahnung, ob überhaupt irgendwer im Nachgang noch Zugriff auf diese Rohdaten besitzt, oder ob das alles nach Abstraktion der üblichen Berichte gelöscht wird bzw. im Giftschrank verschwindet. Jedenfalls werden sämtliche persönlichen Informationen über „Täter“ und „Opfer“ und die Verbindung zu Unfallhergängen und Verkehrsarten der Beteiligten in der amtlichen Statistik säuberlich voneinander getrennt. Es gibt somit keine verfügbaren Daten, die eine Untersuchung analog zur vorliegenden Analyse auf dem Level der leicht bzw. schwer verletzten Radfahrer ermöglichen würde. Da ich mich bei meiner Datensammlung auf Radfahrer als Todesopfer beschränke, gibt es Gleichartiges auch weder für Fußgänger noch andere Verkehrsarten (Kradfahrer, PKW-Fahrer). Nichtsdestoweniger denke ich, dass die große Anzahl von analysierten Todesfällen dafür sorgt, dass man unter der Annahme einer homogenen pyramidenförmigen Unfallschwereverteilung repräsentative Aussagen für das Gesamtgeschehen treffen kann.

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